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Friday, August 21, 2020

E-Scooter-Branche will sozialer werden: Du sollst nicht ausbeuten - DER SPIEGEL

hitagajah.blogspot.com

Seit gut einem Jahr flitzen E-Roller durch deutsche Städte - und haben bereits viel Ärger gebracht. Eigentlich sollten die Scooter alle begeistern, die sich auf der Kurzstrecke nachhaltig und günstig fortbewegen möchten. Dann wurde klar: So umweltfreundlich wie gedacht, ist ein E-Roller womöglich gar nicht.

Zwar stößt ein solches Fahrzeug nicht direkt CO2 aus - im Gegensatz zum herkömmlichen Auto oder Motorroller. Jedoch müssen pro Nutzer und Kilometer bis zu 126 Gramm des Treibhausgases gerechnet werden, wie das SWR Fernsehen berichtet. Fährt man im voll besetzten Bus mit, sind es nur 51 Gramm.

Beim Roller liegt der Wert höher, weil die Produktion des Aluminiumrahmens und der Lithium-Ionen-Akkus viel Energie verschlingt. Negativ wirkt sich zudem aus, dass die Roller regelmäßig zum Laden eingesammelt werden und dass die Lebensdauer der Vehikel gering ist.

Strom fürs Fahren ist nicht das Problem

Die Zahlen stammen aus einer Studie der University of North Carolina, nach der 43 Prozent des CO2-Ausstoßes im Leben eines E-Rollers auf das Einsammeln entfallen und 50 Prozent auf die Produktion. Aus dem Stromverbrauch fürs Fahren resultieren demnach nur fünf Prozent des Umweltschadens.

Kritik an den Rollern scheint also gerechtfertigt - deshalb haben die größten europäischen E-Scooter-Start-ups eine Allianz für mehr Nachhaltigkeit in der Branche geschlossen. Sie soll Ökobilanz und teils prekäre Arbeitsbedingungen in der Branche verbessern und die Firmen von amerikanischen Anbietern abgrenzen. Zuletzt hatten die Uber-Tochter Jump und der Partnerdienst Lime in den USA heftige Kritik ausgelöst, weil sie massenhaft intakte E-Bikes und E-Scooter verschrotteten.

Der deutsche Verleiher Tier, das schwedische Startup Voi und der niederländische Dienst Dott verpflichten sich in ihrem Zehn-Punkte-Plan zu mehr ökologischer und sozialer Verantwortung. Einige der aufgeführten Aspekte sind bereits umgesetzt, andere eher eine Absichtserklärung. Die Maßnahmen umfassen den gesamten Lebenszyklus eines E-Rollers:

  1. Verwendung von mindestens 20 Prozent recyceltem Material in allen neuen E-Scootern ab 2021

  2. Anschaffung neuer E-Scooter ausschließlich mit austauschbaren Batterien ab 2020

  3. Verzicht auf prekäre "Gig-Economy" (in der sich Auftragnehmer mit einzeln bezahlten Dienstleistungen über Wasser halten) und Verpflichtung zur Einhaltung von existenzsichernden Lohnstandards

  4. Verantwortungsbewusstes Wachstum ohne Verstopfung der Straßen

  5. Betrieb aller Lagerhäuser mit erneuerbarer Energie bis Ende 2020

  6. Verwendung von Elektrofahrzeugen zum Aufladen und zur Wartung der Flotte bis Ende 2021

  7. Ergreifen von Maßnahmen zur Minderung des Risikos, dass E-Scooter in Gewässern landen und Bündelung von Ressourcen zur Bergung von E-Scootern aus Gewässern in allen Städten in denen die Anbieter aktiv sind

  8. Keine Verschrottung funktionstüchtiger E-Scooter und Recycling aller Einzelteile, die nicht mehr repariert oder als Ersatzteile verwendet werden können.

  9. Suche nach Second-Life-Lösungen für alle funktionierenden E-Scooter

  10. Berechnung der Kohlenstoffemissionen während des gesamten Lebenszyklus und Ausgleich der Emissionen.

"Hippe Branche" soll Vorbild sein

Doch zielen diese Absichtserklärungen genau genug auf die Probleme - und wie glaubwürdig sind sie? Das Echo bei drei Expertinnen fällt dazu gemischt aus.

Dass E-Roller-Anbieter etwas gegen prekäre Beschäftigung tun wollen, findet die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, Verena Bentele, zunächst einmal gut: "Es ist wichtig, dass gerade eine so hippe Branche Vorbildcharakter hat." Die Modernisierung der Mobilität in den Städten dürfe nicht auf Kosten der Beschäftigten gehen.

Das ist ihrer Ansicht nach aber noch der Fall. In der E-Roller-Branche verfolgen viele Unternehmen das Prinzip der sogenannten "Gig-Economy": Freie Mitarbeiter sammeln Roller mit niedrigem Akkustand ein und laden sie in den eigenen vier Wänden nachts auf.

Sie werden pro Fahrzeug bezahlt: Etwa vier Euro bringt jeder Tretroller. Für die Selbstständigen gibt es jedoch keinen Betriebsrat. Aufträge erhalten sie anonym per App und sie müssen schnell sein, um genug Fahrzeuge zu finden. Für diese Beschäftigten ist ein besseres Arbeitsumfeld Experten zufolge absolut notwendig. Andere Mitarbeiter sind bereits fest angestellt, um Fahrzeuge zu pflegen.

Tarifvertrag statt Gig-Economy

Das Versprechen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist aber recht unkonkret formuliert. Arbeitnehmer im E-Roller-Sektor müssten im Rahmen eines flächendeckenden Tarifvertrags bezahlt werden, sagt Bentele. Und alle weiteren Arbeitsschutzvorschriften müssten eingehalten werden, damit sich Beschäftigte nicht selbst ausbeuten.

Kommunen, die mit den Anbietern zusammenarbeiten, könnten gezielt darauf achten, ob diese Kriterien erfüllt sind. Wenigstens müsse der Mindestlohn als absolute Untergrenze tatsächlich gezahlt werden, sagt Marion Jungbluth, Leiterin des Teams Mobilität und Reisen beim Verbraucherzentrale Bundesverband.

Umweltziele zu oberflächlich formuliert

Und was ist mit den ökologischen Zielen? Aus Sicht von Jens Hilgenberg, verkehrspolitischer Leiter beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), sind sie zu oberflächlich formuliert. Zwar gingen die Pläne grundsätzlich in die richtige Richtung. Ob aber die Quote von 20 Prozent recycelten Materials in neuen Rollern die Umweltbilanz nachhaltig verbessert, hänge davon ab, welche Teile der Roller aus recycelten Material bestehen sollen: Batterie, Alu oder Plastikverkleidung.

"Bei der Ankündigung zu austauschbaren Batterien würden wir uns wünschen, dass es klare Aussagen über die Wiederverwertung der Batterien und ihrer Inhaltsstoffe gibt", so Hilgenberg. "Es muss klar sein, was mit den Batterien nach der Nutzung in den Rollern geschieht, doch genau dazu finden sich keine Aussagen."

Bei anderen Punkten wird relativ spät im Lebenszyklus nach Lösungen gesucht, so der Fachmann. Statt Kohlenstoffemissionen auszugleichen, wünsche er sich, dass keine entstehen. "Vermeiden ist immer besser als ausgleichen", so Hilgenberg. Auch sei erstaunlich, dass manches in der Branche nicht selbstverständlich sei - etwa, dass E-Roller mit E-Fahrzeugen zum Aufladen und zur Wartung transportiert werden. Solche Standards würden die Glaubwürdigkeit der Branche erhöhen.

Mikromobilität, Makroaufregung

Viel mehr zu tun sei, damit E-Scooter seltener in Flüssen und Büschen landeten, meint Jungbluth von der Verbraucherzentrale. Vor allem müssten Firmen und Städte besser aufklären. "Entscheidend ist, dass Innovationen gut kommuniziert werden. Vandalismus ist immer ein Zeichen von Unmut, der in der Gesellschaft entsteht." Die Roller seien quasi im freien Wildwuchs auf die Straße gekippt worden. "Die Politik hat nicht genug dafür getan, den Menschen zu erklären, wie sie von E-Scootern profitieren können", so die Expertin.

Mittlerweile hätten Kommunen und Anbieter über geeignete Abstellflächen diskutiert. "Ich gehe davon aus, dass es bald weniger Vandalismus auf den Straßen gibt", so Jungbluth. Was noch fehle, sei eine stärkere Anbindung der Roller an den ÖPNV. Apps sollten anzeigen, dass Haltestellen in einer bestimmten Zeit mit dem E-Roller gut erreichbar seien. Jungbluth appelliert an jeden Nutzer: "Wenn wir die Mobilitätswende wollen, müssen wir auch neuen Mobilitätsformen aufgeschlossen gegenüberstehen. Sie können unsere Routinen aufbrechen."

Icon: Der Spiegel



August 21, 2020 at 03:08PM
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