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Monday, July 20, 2020

Können sie leiden? - F.A.Z. - Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Im vergangenen Jahr sind mehr als 760 Millionen Tiere in deutschen Schlachthäusern getötet worden. Unter ihnen befanden sich rund 620 Millionen Hühner, 55 Millionen Schweine und drei Millionen Rinder. Hinzu kommen mehr als 18.500 Tonnen Fisch, der in Aquakulturen gezüchtet wurde. Schon die Zahlen erlauben Rückschlüsse auf die Lebensqualität, Verbesserungen fallen meist bescheiden aus: Vor einigen Wochen hat der Bundesrat neuen Regeln für die Schweinehaltung zugestimmt. Der Kompromiss sieht unter anderem vor, dass die Fixierung von Sauen in Kastenständen beschränkt wird – nach einer Übergangszeit von acht Jahren. Ein Kastenstand ist etwa siebzig Zentimeter breit und zwei Meter lang, also etwas größer als die Sau, die darin Platz finden soll.

Kai Spanke

Ihr Leben dauert zwei bis drei Jahre. Sie steht auf Spaltenböden, sieht nie die Sonne, wird künstlich besamt und bekommt etwa fünfmal Junge, zu denen sie keinen natürlichen Kontakt pflegen kann. Wenn sie im Schlachthof ist – die Reise dorthin darf einer EU-Verordnung zufolge vierundzwanzig Stunden dauern –, gerät sie in Panik, sobald sie das Blut ihrer Artgenossen riecht. Sie wird betäubt, „gestochen“ und in sechzig Grad heißem Wasser abgebrüht. Etwa fünfhunderttausend Schweine wachen jedes Jahr bei dem Bad wieder auf, weil der Schlächter sein Handwerk nicht sachgerecht durchgeführt hat.

Spitzfindigkeiten und Inklusionsfuror

All dies ist aus Zeitungsreportagen und Fernsehdokumentationen geläufig. Jeder kennt die entsprechenden Aufnahmen, kaum jemand wird behaupten, es sei unproblematisch, Tiere als bloße Ressource zu halten. Dennoch scheint uns dieses Wissen zu überfordern, weil wenig daraus folgt. Im deutschen Tierschutzgesetz steht: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen.“ Da fragt sich, was ein vernünftiger Grund ist, wo Leid beginnt und ob ein Grashüpfer in dieselbe Kategorie von Tier fällt wie eine Ente oder Kuh. Die Philosophin Hilal Sezgin sagt über unseren Umgang mit Tieren: „Irgendwie stecken wir in einer Sackgasse, weil das, was derzeit offenbar legal ist oder am Rande der Legalität als Routine geduldet wird, so gar nicht unseren moralischen Vorstellungen und unserem Bild von einer zivilisierten Gesellschaft entspricht.“

Mit rund 620 Millionen Individuen stellen Masthühner die größte Gruppe der 2019 in Deutschland getöteten Landtiere.

Auch Argumente, die sich nicht auf das Leid der Tiere beziehen, scheinen denselben Effekt zu haben, sie klingen alarmierend und zugleich theoretisch: Die industrielle Tierhaltung heizt die Erde stärker auf als der Transportsektor; würde nicht so viel Getreide an Nutztiere verfüttert, gäbe es deutlich weniger hungernde Menschen auf der Welt. Ein ertragreicher Austausch über tierethische Positionen findet vor allem im akademischen Rahmen statt. Während sich Philosophen vor fünfzig Jahren noch dafür gerechtfertigt haben, über unsere Pflichten gegenüber Tieren nachzudenken, sind Bücher wie Peter Singers „Animal Liberation“ (1975) oder Tom Regans „The Case for Animal Rights“ (1983) mittlerweile zu Klassikern avanciert. Gleichwohl krankt die Debatte an Theorien, deren Spitzfindigkeiten jeden praktischen Wert von vornherein ausschließen, und an einem Inklusionsfuror, welcher Tiere so stark vermenschlicht, dass es an Herablassung grenzt.

Die stärkere Präferenz gibt den Ton an

Bernd Ladwig, Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin, betrachtet unseren Umgang mit Tieren aus guten Gründen als Ergebnis systemischer Übel. In seinem neuen Buch „Politische Philosophie der Tierrechte“ hebt er hervor, dass derartige Missstände zur „Grundordnung moderner Gesellschaften“ gehören. Deshalb sei es sinnvoll, Tierethik und politische Philosophie zusammenzuführen. Schon Singer und Regan haben aufgeladene Begriffe wie „Gerechtigkeit“ und „Befreiung“ gebraucht – und das Fundament der Disziplin gelegt, auf das sich alle anderen beziehen.

Singer ist Verfechter des Präferenz-Utilitarismus. Er plädiert dafür, jene Tiere in die moralische Gemeinschaft aufzunehmen, die empfindungsfähig sind und ein Interesse daran haben, positive Gefühle zu mehren und negative zu meiden. Damit orientiert er sich an Jeremy Bentham, der 1789 schrieb: „Die Frage ist nicht ,Können sie denken?‘ oder ,Können sie reden?‘, sondern ,Können sie leiden?‘“ Allerdings ist Singer ein Apologet des Aggregationsprinzips, welches besagt, dass negative und positive Folgen gegeneinander aufgewogen werden können. Dabei gibt die stärkere Präferenz den Ton an. Es geht nicht darum, Mensch und Tier gleich zu behandeln, sondern vergleichbare Interessen von Individuen auf gleiche Weise zu berücksichtigen. Insofern schließt Singer Tierversuche nicht grundsätzlich aus.




July 21, 2020 at 01:56AM
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Tier

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